Interview zur sechsten Folge
mit Dr. Ludwig Eckinger
Die 1990er und 2000er Jahre: Profession im Fokus und ein neues Zuhause
Am 12. November 1993 wurden Sie mit einer überwältigenden Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt. Am Tag zuvor verfehlte Ihr Vorgänger und langjähriger Amtsinhaber Wilhelm Ebert die Mehrheit um sieben Stimmen. Erzählen Sie uns bitte von dieser denkwürdigen Versammlung.
Ich war kein Kandidat, der im Rennen war. Von daher war die Niederlage auch für mich überraschend. Ich habe im VBE eng mit Wilhelm Ebert zusammengearbeitet. Er hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass ich die Referate Medien und Lehrerbildung bekam. Allerdings war ich nicht im Bundesvorstand und daher eigentlich ein Newcomer. Nachdem die Wahl so gelaufen ist, wie sie gelaufen ist, waren die Landesverbände natürlich verantwortlich, sich um die möglichen Kandidaten zu kümmern. Ich erinnere mich genau an die Fraktionssitzung des BLLV, auf der nach einigen Diskussionen von einem Bezirksvorsitzenden mein Name genannt wurde und ich mir überlegen musste, ob ich überhaupt zu einer Kandidatur bereit bin. Über Nacht habe ich mir das überlegen können und bin dann angetreten, nachdem ich mich auch den Landesverband vorgestellt hatte und mein Programm, das damals schon das Stichwort Professionalität hatte, vorgestellt hab. Dieses Programm ist offenbar einigermaßen gut angekommen, was sich dann im Wahlergebnis gezeigt hat.
Sie haben Ihr Amt kurz nach der Wende und damit in einer sehr herausfordernden Phase übernommen. Wie konnte der VBE zu einem Gesamtverband geformt werden?
Der Gesamtverband war zunächst einmal wirklich in Frage gestellt, weil die neuen Landesverbände sozusagen im Aufbruch waren. Wir als Westvertreter mussten dafür sorgen, dass wir nicht etwa Landesverbände, die es eigentlich noch gar nicht gibt, die im Aufbruch sind, einfach übernehmen. Es galt gewissermaßen Erblast und Mitgift zu bewältigen. Ich kann im Rückblick nur sagen, dass ich die Bemühungen um Demokratisierung in den neuen Ländern damals faszinierend fand und dass es uns offenbar auch geglückt ist, zu zeigen, dass wir nicht etwa eine Übernahme planen. Ich denke, dass sie den Demokratisierungsprozess mit uns zusammen bewältigen konnten. Dass alles zusammenwachsen musste, ist gar keine Frage. Dass es dafür viele Vorstandssitzungen brauchte, ist auch klar. Die Bundesleitung hat auch deshalb eine bedeutende Rolle gespielt, weil zwei Vertreter aus den neuen Ländern gesetzt waren. Das war ein diplomatischer Akt, der noch auf Wilhelm Ebert zurückging und den ich nicht unterschätzen will. Genauso wie die Delegation verschiedener Personen, die die Demokratisierungsproblematik bewältigen sollten. Sie direkt darauf anzusetzen und auch wirklich für diese Aufgabe freizustellen, halte ich auch für sehr wichtig. Insgesamt ist es schon so, dass wir nach außen hin einen Gesamtverbandverband waren.
Bildet der Umzug von Berlin nach Bonn gewissermaßen den Abschluss dieses innerverbandlichen Zusammenwachsens?
Also in gewisser Weise schon, aber ich glaube, dass es auch von Bonn aus hätten gehen können. Aber für wirklich sehr bedeutend halte ich, dass unser Dachverband der Dbb damit versucht hat, seine Einzelgewerkschaften zu beheimaten. Es war ziemlich schwierig für uns, eine Immobilie zu erwerben, und ich muss sagen, da war ich manchmal auch kurz vorm Aufgeben. Weil es speziell von manchen Landesverbänden, zum Beispiel auch aus Bayern, große Schwierigkeiten gab, uns zuzuerkennen, dass wir das Schultern. Und ich bin sehr froh, dass wir nicht nachgegeben haben, dass wir diese Immobilie jetzt haben und sie uns gehört, wo sie jetzt eigentlich eher unbezahlbar ist. Insgesamt glaube ich, dass das Dbb-Forum eine große Bedeutung hat, was es angeht, sich zu Hause zu fühlen und als Bundesverband einen Dachverband zu haben. Der VBE als größte Gewerkschaft im Dbb gehört absolut dazu. Das wäre unverantwortlich, wenn er nicht auch im gleichen Haus wäre.
Mit welchen bildungspolitischen Herausforderungen waren die Kolleginnen und Kollegen in den 1990er und 2000er Jahren konfrontiert?
Da gab es vergleichbare Probleme wie heute. Aber ein wirklich typischer Fall war die Bundesvertreterversammlung in Magdeburg, die zum Thema hatte: „Bildung macht stark, macht Bildung stark“. Das war eine Aufforderung, die zunächst einmal überrascht hat. Und die Politik hat genau zugehört, was wir damit meinten. Wir meinten damit natürlich nicht nur Ausbildung u.ä., sondern dass Bildung bedeutet, dass wir uns auf den Weg zum mündigen Staatsbürger müssen und der Demokratieprozess eine ganz wichtige Richtschnur für uns ist.
Egal ab DSLK, DSTK oder DKLK, der VBE ist heute eng mit den Kongressen verknüpft, die er mitveranstaltet. Wo lag der Beginn und warum ist das wichtig, für eine Bildungsgewerkschaft?
Wir haben ja in der Zeit, in der ich Bundesvorsitzender war, immer zwei große Veranstaltungen pro Jahr angeboten. Einmal den Deutschen Lehrertag und zum anderen das bildungspolitische Symposium. Dabei haben wir immer versucht, Themen zu setzen, die über den Tag hinausdenken. Ich sage: Der Anspruch des VBE war von vornherein Professionalität. Dabei wollten wir nicht nur die Pflicht absolvieren, die der Staat anbieten muss, sondern wir wollten weiter und haben die Kür angeboten. Damit haben wir gezeigt, dass wir deutlich mehr sind als eine Gewerkschaft, die natürlich auch die Aufgabe hat, gute Rahmenbedingungen zu erreichen, aber eben auch weit darüber hinaus ein Thema wie „Gerechtigkeit in der Schule“ oder „Generation XXL“ vorausdenkt. Das hat den VBE ausgezeichnet und ihn auch von allen anderen Lehrerorganisationen unterschieden. In meiner Zeit haben wir – das war immer ein Schwerpunkt von mir – die Lehrerbildung als zentrales Element unserer Überlegungen dargestellt. Dafür haben wir auch eine ganze Reihe von Kooperationsveranstaltungen gemacht. Ich nenne hier beispielhaft die Kooperation mit der Hochschulrektorenkonferenz, die ebenfalls sehr deutlich gemacht hat, dass wir eine pädagogische Lehrerbildung brauchen. Da haben wir gezeigt, dass diese Veranstaltungen ohne den VBE nicht stattfinden würden und dass dies nicht nur eine Lücke, sondern auch ein Demokratiedefizit wäre, wenn es diese Veranstaltung bis heute nicht geben würde.
Neben dem Bundesverdienstkreuz am Bande wurde Ihnen auch das große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich verliehen. Wie kam es dazu?
Ich habe das Bundesverdienstkreuz unter dem Stichwort Bildungsgerechtigkeit bekommen. Da war ich schon angetan. Die internationale Aufgabe hat der VBE, gemeinsam mit der GEW und dem Berufsschullehrerverband, immer für wichtig genommen. Die anderen Organisationen sparen das Geld hier an der falschen Seite. Der VBE nicht. Er ist auf internationaler Ebene über das Europäische Gewerkschaftskomitee für Bildung und Wissenschaft (ETUCE) in Europa und über den Weltlehrerverband Education International (EI) weltweit etabliert. Ich habe mir eines Tages nach einer Tagung, auf der es sehr anonym zuging und alle möglichen Themen abgehandelt wurden, gedacht, wir sollten es vielleicht herunterdeklinieren. Da habe ich den Bundesvorsitzenden aus der Schweiz und Österreich angeboten, dass wir uns konkret mit unseren Problemen befassen. Das haben wir dann mit der Wiener Erklärung als Spitze gemacht. So haben wir schon 2008 einen eklatanten Lehrermangel vorausgesagt und, anknüpfend an die Bremer Erklärung, die Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer definiert. Mit dieser Wiener Erklärung haben wir klargemacht, dass die Lehrerinnen und Lehrer bestimmte Aufgaben und Pflichten, aber eben auch Rechte haben, und dass sie in der Demokratie unverzichtbar sind. Dass der von uns damals schon vorausgesagte Lehrermangel, der jetzt eklatant ist und die Gefahr der Endprofessionalisierung in sich trägt, ignoriert wurde, ist ein Skandal.
Wenn Sie heute auf Ihren Vorsitz zurückblicken: Worauf sind sie besonders stolz und wo blieb die Realität hinter Ihren Erwartungen zurück?
Es war manchmal so, dass sich Landesverbände durch den Bildungsföderalismus etwas haben irreführen lassen und die Selbstständigkeit vielleicht etwas zu sehr ausgeprägt war und die Bereitschaft, im Bundesverband konstruktiv mitzuarbeiten, dann unterentwickelt war. Dagegen haben wir gekämpft, und ich denke, dass wir auch einen ganz guten Konsens erzielt haben. Letzten Endes muss es ein Gesamtverband sein, der auf Bundesebene agiert, wenngleich der Bildungsföderalismus ein Riesenproblem bleibt und nicht annähernd bewältigt ist. Was den zweiten Teil der Frage angeht, muss ich sagen, das ist natürlich schon sehr persönlich geprägt. Ich hatte mir nach einigen Monaten in den Jahren 1993 und 94 einen Dreischritt überlegt, der immer auch auf die nachwachsende Generation abgezielt hat. Ziel war es, die Profession der Lehrerinnen und Lehrer zu beschreiben, zu schützen und zu stärken. Dazu gehört für mich erstens zu erklären: Lehrerinnen und Lehrer sind Experten für Fragen des Unterrichts und der Erziehung. Das ist nicht selbstverständlich für die Öffentlichkeit. Zweitens: Wir brauchen die Entwicklung einer eigenen Berufswissenschaft in der Lehrerbildung. Fünftes Rad am Wagen an der Universität ist ganz unerträglich für diesen wichtigen Beruf. Drittens brauchen wir eine nach innen und außen anerkannte Berufsethik. Zu dieser gehört auch Freiheit, Wahrhaftigkeit etc., aber da meine ich auch das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl der Lehrerinnen und Lehrer. Dafür müsste viel mehr getan werden. Bildung und die wichtigsten Arbeiter in der Bildung, die Lehrerinnen und Lehrer, müssen einen erheblich höheren Stellenwert bekommen dieser Gesellschaft.