Bildungsgerechtigkeit

Aufbrechen: Zeit für Bildung

veröffentlicht am 17. November 2016


Die Schule entschleunigen

Neue Technologien haben das Leben der Menschen deutlich verändert. Virtuelle Welten, mediale Kommunikation und das Streben nach Erfolg prägen den Alltag in den westlichen Gesellschaften wie nie zuvor. Dabei erleben viele Menschen immer wieder Hast und Hektik. Sie sollen immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit erledigen. Geschwindigkeit, Effizienz und schneller Erfolg sind zu den wichtigen Werten in unserer Gesellschaft aufgestiegen. Sie hinterlassen immer mehr ausgepowerte und überforderte Menschen. Effizientes Change Management, wirksame Burn-Out-Prophylaxe und flexibles Zeitmanagement sind die hilflosen Antworten auf zutiefst menschliche Probleme, die durch Beschleunigung und übertriebene Effizienzorientierung entstanden sind. Der Umgang mit Zeit wird dabei zur individuellen Herausforderung stilisiert. In Wirklichkeit haben wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun, dem sich nicht nur das Individuum, sondern vor allem auch die Politik, die Unternehmensführungen, Behördenleiter/innen und die gesellschaftlichen Institutionen stellen müssen.

„In der jetzigen Zeit ist es mal was Neues, beim Alten zu bleiben.“ (Wilhelm Raabe) oder „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“ (Dr. V. van Rüth).

In diesem Spannungsbogen bewegen wir uns. Auch in der Schule müssen wir uns diesen aktuellen Strömungen stellen.

Messen und Beschleunigung in der Schule

Längst haben Beschleunigung und Effizienzdenken auch die Schüler/innen, die Eltern, die Bildungspolitiker/innen und die Schulverwaltung erreicht. Die Schule, die Schüler/innen, die Lehrer/innen werden in nie gekanntem Maße erfasst, gemessen, verglichen. Es werden immer neue Ratingskalen entwickelt. Ein regelmäßiges Ranking vergleicht alles mit allem, von der besten Schule bis zum besten Lehrer Deutschlands. IGLU, VERA, PISA – hinter diesen Abkürzungen verbergen sich Aktionen und Aktivitäten, an denen zahlreiche Wissenschaftler/innen beteiligt sind, die unter hohem Zeitaufwand Millionen von Erhebungsbögen und endlose Zahlenkolonnen auswerten. Dabei geht es nicht um Bildung, sondern darum, bestimmte Leistungssegmente zu messen, die Ursachen zu bestimmen und die Effizienz von Schule zu steigern – regional, national und international.

Es entstehen Gewinner und Verlierer, und zwar auf der Grundlage fragwürdiger Qualitätskriterien. In Schulen und Universitäten entwickeln sich Wettkämpfe um Punkte und Positionen mit den Folgen der Konkurrenz, der Einengung des Bildungsbegriffs und der Entsolidarisierung. Und es entsteht ein enormer Handlungsdruck, alles immer zu optimieren, denn höhere Effizienz heißt mehr Leistungen in kürzerer Zeit - und das muss messbar sein. Neue Verordnungen, neue kultusministerielle Verlautbarungen, neue Bekanntmachungen und Reglementierungen, neue Statistiken, neue Arbeitsgruppen, neue Aufgaben, neue Gesetzesinitiativen sind oft die hyperaktiven Antworten einer überforderten Politik und Verwaltung.

Was unsere Aufgabe ist

Der VBE ist der Überzeugung, dass wir als Lehrerinnen und Lehrer, aber auch als Mitarbeiter/in in der Verwaltung, in unserem System Schule einer weiteren Beschleunigung entgegenwirken müssen. Wir brauchen Zeit für Bildung. Lernen braucht ebenso Zeit wie die Entwicklung der Persönlichkeit der jungen Menschen. Aber wir brauchen auch Zeit, um guten Unterricht und wirksames Lernen zu ermöglichen, um die Schule zu einem Ort der Begegnung, der Vertiefung, des Miteinander zu machen.

Ausgebrannte und überforderte Lehrerinnen und Lehrer, sowie Mitarbeiter/innen in der Verwaltung sind Ausdruck eines krankmachenden Arbeitsumfeldes. Schul- und Bildungseinrichtungen brauchen ausgeglichene, selbstbewusste und selbstachtsame Pädagoginnen und Pädagogen und Mitarbeiter/innen in der Verwaltung. Nur dann kann gute Bildung auch gelingen.

Als Selbsthilfeeinrichtung von Lehrern/innen müssen wir im VBE alles tun, um Schul- und Bildungseinrichtungen zu entschleunigen und menschlich zu machen. Deshalb müssen wir

- die Öffentlichkeit über die Ressourcenknappheit in der Bildung informieren,

- uns vor alle Kolleginnen und Kollegen stellen und uns gegen die permanente Mehrbelastung wehren,

- Kolleginnen und Kollegen ermutigen, öffentlich Grenzen aufzuzeigen und die Ressourcenknappheit zu benennen,

- alle Kolleginnen und Kollegen unterstützen, die Bildungs- und Erziehungsprozesse ohne Zeitnot schaffen wollen und deshalb Aufgaben zurückweisen oder reduzieren,

- allen denen aktiv helfen, die dem Druck nicht mehr gewachsen sind.  

Unsere Forderungen

Die bildungspolitische Auseinandersetzung müssen wir in Zukunft verstärkt unter dem Gesichtspunkt der Zeit führen. In diesem Kontext geht es letztlich immer auch um finanzielle Ressourcen, denn zeitbewusstes, dem Menschen angemessenes Arbeiten verlangt, wenn auch nicht ausschließlich, deutlich mehr Personal. 

In diesem Kontext fordert der VBE

- in der Schul-und Bildungspolitik, aber auch in den Schul- und Bildungseinrichtungen mit dem Thema „Zeit“ kritisch und reflektiert umzugehen,

- die Unterrichtsversorgung zu sichern,

- mehr Zeitressourcen bereitzustellen,

- die Leitungen der Schul- und Bildungseinrichtungen zu stärken,

- die Lernzeit neu zu strukturieren,

- den Arbeits- und Gesundheitsschutz ernst zu nehmen,

- individuelle Lebensarbeitszeitgestaltung zu ermöglichen und

- Bürokratie abzubauen

- Lehrerbildung so zu gestalten, dass künftige Lehrkräfte gebildet und gestärkt aus Studium und Vorbereitungsdienst hervorgehen.


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