Berlin, Inklusion

Realität hinkt Ansprüchen weiter hinterher

forsa-Lehrerbefragung zu „Inklusion“ im Auftrag des VBE

„Inklusion wird nicht gelingen, wenn die Lehrkraft alleine, ohne Unterstützung durch weitere Professionen und nicht ausreichend fortgebildet, in zu großen Klassen und zu kleinen Räumen unterrichten muss! Die repräsentativen Ergebnisse belegen aber erneut, dass genau das nach wie vor die Realität an deutschen Schulen ist“, kommentiert Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) die Ergebnisse der im Auftrag des VBE durchgeführten forsa-Umfrage „Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland – Meinungen, Einstellungen, Erfahrungen“. Forsa hat die repräsentative Befragung unter 2.050 Lehrkräften allgemeinbildender Schulen im April und Mai 2017 durchgeführt. Es gibt zusätzlich Stichproben für Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und eine für die drei Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. 

Über die Hälfte der Lehrkräfte (54 Prozent) spricht sich trotz der schlechten Bedingungen für den gemeinsamen Unterricht aus. Für Inklusion sprechen vor allem die Förderung sozialer Kompetenzen, das soziale Lernen und die Förderung von Toleranz. Wenige befürchten Nachteile für nicht-behinderte Kinder oder glauben, dass behinderte Kinder überfordert oder frustriert werden. 

Der Bundesvorsitzende: „Die Politik sollte vor Scham im Boden versinken, wenn sie hört, was die Lehrkräfte an Gründen gegen Inklusion vorbringen. Es fehlt an Fachpersonal, die ungenügende materielle und finanzielle Ausstattung wird bemängelt und viele werden nicht adäquat durch Aus-, Fort- und Weiterbildung vorbereitet. Deshalb gibt fast ein Fünftel an, dass die Regelschule den erhöhten Förderbedarf behinderter Kinder nicht leisten kann. Hier wird besonders offensichtlich, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht im Einklang sind.“ So sei auch zu interpretieren, dass 59 Prozent der Befragten für den vollständigen Erhalt der Förderschulen seien und immer noch 38 Prozent für einen teilweisen Erhalt votieren. 

Mittlerweile gibt es an über der Hälfte der Schulen inklusive Lerngruppen (54 Prozent). Dass ihre Schule vollständig barrierefrei ist, berichten jedoch nur 16 Prozent der Befragten. „Hier zeigt sich deutlich: die Politik verweigert die Gelingensbedingungen für Inklusion. Wer Inklusion will, muss die Schulgebäude entsprechend gestalten. Dazu gehören auch Räume für Kleingruppen und Differenzierungsräume, von denen nur knapp über die Hälfte der Befragten berichten“, so Beckmann.


Nur ein Drittel der befragten Lehrkräfte berichtet von einer Absenkung der Klassengröße bei Hinzukommen eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die überwältigende Mehrheit (61 Prozent) berichtet von gleichbleibenden Klassengrößen. Die Herausforderung Inklusion muss noch immer von einer Lehrkraft allein gestemmt werden, berichten 65 Prozent der Befragten. Zudem hat sich die Unterstützung durch Mitglieder multiprofessioneller Teams seit 2015 nicht verändert. Noch immer gibt es nur an zwei Dritteln der Schulen Sozial- und Sonderpädagogen, dabei nur an der Hälfte der Grundschulen, dafür aber an 86 Prozent der Sekundarschulen (ohne Gymnasien). 98 Prozent der Befragten geben an, dass für die inklusive Beschulung die Doppelbesetzung aus Regelschullehrkraft und Sonderpädagoge benötigt wird. 86 Prozent von ihnen sprechen sich dafür aus, dass es die Doppelbesetzung immer und nicht nur zeitweilig gibt. Der VBE-Bundesvorsitzende fordert: „Hier muss die Politik die Praxiserfahrung der Lehrkräfte endlich anerkennen. Das Arbeiten in multiprofessionellen Teams muss der Standard-Fall werden. Schluss mit stundenweiser Förderung, Schluss mit stundenweiser Unterstützung, Schluss mit stundenweiser Beziehungsarbeit.“ 

Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Lehrkräfte nicht ausreichend auf die Übernahme einer inklusiven Lerngruppe vorbereitet werden. 32 Prozent hatten keine entsprechende Lehrerfortbildung im Vorfeld. Nur ein Viertel hatte bereits Erfahrung im gemeinsamen Unterricht sammeln können. 

Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen sind für die Lehrkräfte die größte Herausforderung und haben den höchsten Förderbedarf. 92 Prozent der Lehrkräfte schätzen diesen als (sehr) hoch ein. Dies deckt sich mit dem Ergebnis der zuletzt veröffentlichten Expertise im Auftrag des VBE von Prof. Dr. Ahrbeck. 

Bemerkenswert: Ein Viertel der Lehrkräfte unterstützt bei der Medikamentengabe. Bereits im März 2017 hatte der VBE zusammen mit dem Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte die Gesundheits- und Kultusministerien auf Bundes- und Landesebene aufgefordert, Schulgesundheitsfachkräfte flächendeckend bedarfsgerecht einzuführen. Gerade im Hinblick auf die Inklusion ist die Bereitstellung von Schulgesundheitsfachkräften unumgänglich. 

Der VBE fordert:
Für gelingende Inklusion muss das Vertrauen der Lehrkräfte in dieses Konzept zurückgewonnen werden. Dafür bedarf es massiver Investitionen, damit die Gelingensbedingungen stimmen. Dazu gehören:

1) die Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge,

2) die Unterstützung durch multiprofessionelle Teams,

3) die schulbaulichen Voraussetzungen,

4) kleinere Klassen,

5) bessere Vorbereitung durch angemessene Aus-, Fort- und Weiterbildung.