Politik muss mit dem Märchen vom Einzelfall aufhören!
forsa-Schulleitungsumfrage „Gewalt gegen Lehrkräfte“
„Die uns vorliegenden Fakten beweisen erneut, dass die Kultusministerien mit ihrer Einschätzung, dass ‚Gewalt gegen Lehrkräfte‘ lediglich Einzelfälle sind, schlicht falsch liegen. In den letzten fünf Jahren gab es an der Hälfte der Schulen direkte psychische Gewalt gegen Lehrkräfte, an einem Fünftel Cybermobbing, an jeder vierten Schule körperliche Gewalt gegen Lehrkräfte. Nach der Lehrkräftebefragung im November 2016 wird mit der aktuellen, bundesweit repräsentativen Schulleitungsbefragung erneut deutlich, wie relevant das Thema ist. Die Ergebnisse sind so eindeutig, wie erschütternd“, kommentiert Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), die heute veröffentlichten Ergebnisse einer vom VBE in Auftrag gegebenen forsa-Umfrage.
Bei der Umfrage wurden 1.200 Schulleitungen allgemeinbildender Schulen danach befragt, ob es an ihrer Schule Gewalt gegen Lehrkräfte gibt, welche Arten von Gewalt auftreten und ob sie die angegriffenen Lehrkräfte ausreichend unterstützen können. Der VBE hatte zu dem Thema „Gewalt gegen Lehrkräfte“ zuletzt im November 2016 eine ebenfalls von forsa durchgeführte Umfrage veröffentlicht. Damals wurden 1.951 Lehrkräfte allgemeinbildender Schulen befragt.
„Heute wie damals gilt: Es braucht öffentliche Statistiken. Nur, wenn das Ausmaß für die Ministerien greifbar wird, werden sie die angemessenen Maßnahmen umsetzen, um Lehrkräfte besser zu schützen, im Falle eines Falles besser zu unterstützen und das Klima an den Schulen langfristig zu verbessern. Die Politik darf mit ihrer ‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‘-Haltung in keinem einzigen Bundesland mehr durchkommen“ kritisiert Beckmann.
Der VBE hatte den Kultusministerien im September vergangenen Jahres die Möglichkeit gegeben, unter anderem die Frage zu beantworten, ob in den Bundesländern Statistiken zu Gewaltvorfällen gegen Lehrkräfte geführt werden (à Übersicht). Der Bundesvorsitzende äußert sich dazu: „Enttäuschend ist zum einen die Antwort: ‚Obwohl wir keine Zahlen erheben, können wir versichern, dass es nur Einzelfälle gibt.‘ Da muss man sich schon fragen, woher diese Gewissheit genommen wird. Zum anderen halten wir die Einschätzung, dass eine standardisierte Erfassung der Zahlen im Kultusministerium Lehrkräfte davon abhalten würde, sich Hilfe zu holen, für grundsätzlich falsch. Im Gegenteil: Die Kultusministerien würden damit endlich das Zeichen aussenden, dass ihnen das Thema wichtig ist und sie möchten, dass nichts unter den Teppich gekehrt wird.“
Beckmann ist davon überzeugt, dass das Veröffentlichen von Zahlen einen positiven Effekt hat. So sagten in der letzten Umfrage noch 57 Prozent der befragten Lehrkräfte, dass ‚Gewalt gegen Lehrkräfte‘ ein Tabu-Thema sei. Nun stimmen dieser Aussage nur noch 39 Prozent der befragten Schulleitungen zu. „Ein offener Umgang mit diesem Thema ist vor allem für die Betroffenen immens wichtig“, meint er.
Jede zehnte Schulleitung gibt an, dass die Lehrkräfte nach einem Gewaltvorfall nicht ausreichend unterstützt werden konnte. Als Gründe nennen 63 Prozent von ihnen, dass sich betroffene Schülerinnen und Schüler uneinsichtig zeigten und 59 Prozent bemängeln, dass Eltern nicht kooperationswillig waren. Jede dritte Schulleitung sagt, dass sich das Schulministerium des Themas nicht ausreichend annimmt. „Wenn zudem jeweils 20 Prozent der Befragten angeben, dass die Meldung zu bürokratisch sei, sie zu viele andere Aufgaben haben, eine Meldung zu Reputationsverlusten führe und sich die Schulverwaltung des Themas nicht ausreichend annehme, ist das beschämend“, bewertet Beckmann. Zudem sagen 11 Prozent, dass die Meldung von Vorfällen von den Schulbehörden nicht gewünscht sei.
Beckmann kommentiert: „Neben schwierigen Schülerinnen und Schülern und deren Eltern ist das größte Problem der Schulleitungen also der fehlende Rückhalt aus der Politik und die immer weiter steigende Aufgabenmenge. Dies zeigte auch unsere Umfrage zur Berufszufriedenheit von Schulleitungen, die wir im März veröffentlicht haben. Es braucht endlich Lösungen statt Relativierungen, Handeln statt Abwarten.“
Der VBE fordert:
- Statistiken müssen geführt und von den Kultusministerien regelmäßig veröffentlicht werden.
- Lehrkraft und Schulleitung müssen die volle Unterstützung des Dienstherrn erhalten. Dazu zählt auch die unbürokratische Meldung und schnelle Hilfe nach einem Vorfall.
- Es braucht massive Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, damit Lehrkräfte durch multiprofessionelle Teams mit Schulpsychologen, Schulsozialarbeitern und weiteren Fachkräften unterstützt werden können und ein Lernumfeld geschaffen werden kann, das nicht durch Ressourcenmangel geprägt ist, sondern individuelle Förderung gewährleistet.
- Lehrkräfte müssen besser auf den Umgang mit Heterogenität und das Verhalten in Konfliktsituationen vorbereitet werden. Hierfür braucht es ein breites Fortbildungsangebot.