Berlin, Gesundheit & Zufriedenheit Lehrkräftebildung/-mangel

Hoher Lehrkräftemangel erwartet

„Die Kultusministerien haben es über Jahre versäumt, ausreichend viele Lehrkräfte entsprechend des Bedarfes und der stetig neu hinzukommenden Anforderungen anzuwerben und einzustellen. Dies wird sich stärker werdend fortsetzen – und zwar jedes Jahr, bis die Politik endlich bereit ist, den Beruf durch bessere Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung attraktiver zu gestalten. Verschärft wird der Mangel während der Corona-Pandemie durch Lehrkräfte, die aufgrund einer attestierten, erhöhten Risikolage nicht vor Ort unterrichten können und weil weniger Personen aus der Rente oder Pension zurückgeworben werden können. Der Seiteneinstieg bleibt damit die einzige Lösung der Kultusministerien, wobei hier weiterhin nur eine mangelhafte Qualifizierung besteht. Deshalb blicken wir mit großer Sorge auf das neue Schuljahr und erwarten nochmals einen Mangelzuwachs“, erklärt der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann. „Zahlen könne man jedoch noch nicht seriös nennen“, sagt er und verweist lediglich auf die Modellrechnung der Kultusministerkonferenz, die in den nächsten Wochen anhand des aus den Bundesländern gemeldeten Mangels validiert werden wird.

Grundsituation Lehrkräftemangel

Schon in den letzten Jahren wurde es zunehmend schwerer, ausreichend originär ausgebildete Lehrkräfte zu finden. So gaben die Schulleitungen in der vom VBE beauftragten forsa-Schulleitungsbefragung 2018 an, dass an jeder dritten Schule Lehrkräfte fehlen, 2019 klagte jede zweite Schulleitung darüber und im Frühjahr 2020 fehlten an fast 60 Prozent der Schulen Lehrkräfte. Bei diesen sind im Mittel rund 10 Prozent der Stellen nicht besetzt. Beckmann sagt, dass konkrete Zahlen erst nach Beginn des Schuljahres genannt werden können: „Alles andere ist unseriös.“

Orientierung bietet die Modellrechnung der Kultusministerkonferenz (2019), wonach 2020 der Bedarf von Lehrkräften an Grundschulen und Sekundarschulen (außer Gymnasium) das Angebot um 7.000 Vollzeitstellen übersteigt. Zudem ist einzurechnen, dass Stellen in Teilzeit besetzt werden und das negative Saldo aus dem letzten Jahr von 6.600 Stellen vermutlich nicht ausgeglichen werden konnte. Die Bertelsmann Stiftung hatte im September 2019 eine Rechnung vorgelegt, wonach bis 2025 bis zu 26.300 Absolventen des Grundschullehramtes fehlen.  

Verschärfung durch aktuelle Pandemie

In der Pandemie wird es Lehrkräften nach individueller ärztlicher Beurteilung entsprechend ihrer Risikofaktoren ermöglicht, von zu Hause aus zu arbeiten. Hier begleiten sie Schülerinnen und Schüler online, planen Unterricht, koordinieren, können Aufgaben korrigieren und übernehmen Organisatorisches. „Trotzdem fehlen sie als Lehrkraft an der Schule. Klassenleitungen und Fachlehrkräfte müssen vertreten werden oder der Unterricht fällt aus. Die Versprechung aus den Kultusministerien, dass ein Regelbetrieb angeboten werden kann, weckt falsche Erwartungen und kann deshalb nur zu Unmut führen“, sagt Beckmann.

Vermeintliche Lösung: Seiteneinstieg

Laut der forsa-Umfrage von 2020 werden mittlerweile an der Hälfte aller Schulen Seiteneinsteigende beschäftigt. In Berlin machten sie im letzten Schuljahr 60 Prozent der Neueingestellten aus, in vielen ostdeutschen Ländern 30 Prozent, in westdeutschen Flächenländern um zehn Prozent (Quelle: Abfrage der Rheinischen Post). Das Problem: Sie werden nicht ausreichend vorqualifiziert, es fehlt die Zeit, um sie von Lehrkräften anlernen und begleiten zu lassen und es gibt kaum Angebote der beruflichen Weiterqualifizierung. Beckmann kritisiert: „Hier werden willige Menschen, die sich für Bildung engagieren wollen, von Anfang an demotiviert. Es braucht dringend Standards für Qualifizierungsangebote und Kooperationszeiten, sonst machen sich die Kultusministerien lächerlich.“

Hierauf weist der VBE fortwährend hin. So wird u. a. eine halbjährige Qualifizierung eingefordert, zum Beispiel im April 2017, August 2017, Januar 2018, Oktober 2018, März 2019, September 2019, November 2019, März 2020. Die Forderungen wurden auch in einem Positionspapier zusammengestellt, wonach Seiteneinsteigenden durch Vorqualifizierung und berufsbegleitende  Qualifizierung der Nacherwerb eines Lehramts ermöglicht werden soll. Beckmann äußert Unverständnis: „Immer noch wird so getan, als würde der Lehrkräftemangel jeden Sommer wieder vom Himmel fallen. Mit zu wenig Vorbereitung werden dann zu viele Seiteneinsteigende in das System gegeben. Die Bertelsmann Stiftung konnte in einer Auswertung für Berlin exemplarisch aufzeigen, dass Seiteneinsteigende zudem vor allem dort eingesetzt werden, wo der pädagogische Bedarf am größten ist, nämlich in Schulen in schwierigen sozialen Lagen. Hier lag ihr Anteil in Kollegien bei durchschnittlich zehn Prozent und damit doppelt so hoch wie an Schulen mit finanziell besser gestellten Kindern.“

Weitere Verschärfung durch fehlende Alternativen

Neben dem Seiteneinstieg wurden in den letzten Jahren auch vielfach Personen aus der Rente oder Pension für den Schuldienst zurückgewonnen. In der aktuellen Pandemielage und unter Berücksichtigung des deutlich höheren Risikos ab einem bestimmten Alter wird dies in diesem Jahr noch weniger zu einer Entlastung vom Mangel beitragen können.

Bezahlung und Rahmenbedingung

Um die Attraktivität des Berufsfeldes zu steigern, braucht es zudem die gleichwertige Bezahlung unabhängig von Schulform und -stufe. Hier ist insbesondere die gleiche Eingangsbesoldung A13 umzusetzen. Zudem müssen dringend bessere Arbeitsbedingungen mit Fokus auf Gesundheitsschutz umgesetzt werden. „Jede Forderung der Politik muss mit entsprechenden Ressourcen für die Schule unterlegt werden“, so Beckmann.

Entlastungsangebote werden verweigert

Eine weitere Forderung des VBE ist die Einsetzung von multiprofessionellen Teams. Durch ihre breite fachliche Aufstellung ist es so besser möglich, die Kinder individuell zu fördern. Gleichzeitig wird die Lehrkraft entlastet, sagen fast alle Schulleitungen, die ein solches Team haben (forsa 2020). Allerdings gibt es dies nur an der Hälfte der Schulen. „Hier ist Politik in der Pflicht, schnellstmöglich nach-zusteuern und diese Unterstützung nicht länger zu verweigern“, sagt Beckmann.