Integration

Geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine

Unterschiedliche Bedürfnisse wahrnehmen und anerkennen

veröffentlicht am 15. November 2018


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Deutschland hat die Aufgabe, den ukrainischen Menschen, die vor dem Krieg in ihrer Heimat flüchten, zu helfen. Wie dies, insbesondere mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen, bestmöglich gelingen kann, darauf gibt es keine einfachen, allgemeingültigen Antworten. Das ist ein zentrales Ergebnis intensiver Gespräche, die der Bundesvorstand des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) hierzu geführt hat.

Bestehende Strukturen und Erfahrungen in Deutschland aus den Jahren 2015/2016 zur Integration geflüchteter Menschen helfen, sie werden aber nicht ausreichen, um der gegenwärtigen komplexen Herausforderung gerecht zu werden. Fakt ist: Kitas und Schulen werden eine zentrale Rolle bei der Bewältigung dieser Herausforderung einnehmen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Wir werden diese Aufgabe nur als Gesellschaft insgesamt bewältigen können, wenn alle Mitbürgerinnen und -bürger ihren Beitrag leisten und wenn alle Institutionen und Beteiligten offen, unterstützend, pragmatisch und lösungsorientiert zusammenarbeiten.

Ein wesentlicher Unterschied zu vergangenen Flüchtlingsbewegungen ist: Viele der aus der Ukraine geflüchteten Menschen kommen mit der Hoffnung zu uns, dass sie bald in ihr Heimatland zurückkehren können. Wann dies möglich sein wird, kann gerade niemand sagen. Vor diesem Hintergrund müssen wir unser bisheriges Verständnis von Integration überdenken und offen dafür sein, wo es andere, neue Antworten braucht. Im Fokus müssen gerade in dieser Phase die Bedürfnisse der Geflüchteten, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, stehen. Der VBE hat zentrale Fragen, die es aus seiner Sicht kurz-, mittel- und langfristig zu beachten und zu beantworten gilt, zusammengefasst.

Die Bedürfnisse der Kinder und Eltern in den Vordergrund stellen

Ausgangspunkt jedes Angebotes und jeder Maßnahme müssen gerade in dieser Phase die individuellen Bedürfnisse der geflüchteten Kinder sein. Verlust, Vertreibung und Gewalterfahrungen stellen psychische Belastungen dar, deren Aufarbeitung professioneller Unterstützung bedarf. Das Ziel kann daher nicht allgemeingültig in einer möglichst schnellen und effektiven Integration in das deutsche Schulsystem liegen. Ruhe, Zeit, das Ankommen in Frieden und Sicherheit sowie Angebote zur Bearbeitung individueller Traumata müssen zunächst Priorität haben. Die dafür erforderlichen Expertinnen und Experten müssen bereits in den Ankunftszentren und Unterkünften bestmöglich zur Verfügung stehen. Auch in den Schulen und Kitas braucht es Psychologinnen und Psychologen. Alle beteiligten Institutionen müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.

Die entscheidende Frage muss lauten: Was braucht das Kind, was braucht der junge Mensch jetzt und wie kann dies bestmöglich gewährleistet werden? Auch die mögliche Integration ausgebildeter ukrainischer Lehrkräfte und das kurz- und mittelfristige Angebot von Lehrangeboten nach dem ukrainischen Rahmenplan müssen mit dem Blick darauf, was jetzt das Beste für die Kinder und Jugendlichen ist, mitgedacht werden, ohne die Gefahr der Separierung aus den Augen zu verlieren.

Kitas und Schulen intensiv unterstützen, Zusammenarbeit fördern

Die Realität an Schulen und Kitas ist: Die pädagogischen Fachkräfte sind durch die Pandemie und die damit verbundenen, bereits seit zwei Jahren andauernden Herausforderungen, stark belastet und teilweise überlastet. Die ohnehin bestehende Personalunterdeckung an Schule und Kita hat sich nochmals verschärft. Lehrkräfte und Erzieher:innen tun alles, was ihnen unter den gegebenen Bedingungen möglich ist. Es braucht aber zwingend und dringender denn je schnellstmögliche Unterstützung des pädagogischen Fachpersonals, beispielsweise durch multiprofessionelle Teams. Auch mit Blick auf die räumlichen Kapazitäten müssen Kitas und Schulen, die zusätzliche Kinder und Jugendliche aufnehmen, kurzfristige und flexible Lösungen angeboten werden und zusätzliche finanzielle Mittel unbürokratisch zur Verfügung gestellt werden.

Gesellschaftliche Solidarität braucht Ehrlichkeit und Transparenz

Die Solidarität in der Gesellschaft ist angesichts des Leids, das Krieg und Vertreibung mit sich bringen, beeindruckend. Sie zu erhalten ist ein entscheidender Faktor für die erfolgreiche Bewältigung der Herausforderungen, die insbesondere auf Schulen und Kitas zukommen werden. Es ist unabdingbar, dass wir angesichts der großen Zahl der Geflüchteten, die zu uns kommen, enger zusammenrücken und jede und jeder seinen Beitrag leistet. In Kita und Schule werden Lerngruppen wachsen, das Raumangebot wird zusätzlich beansprucht werden, die Kapazitäten zur individuellen Förderung werden sich auf eine größere Anzahl von Kindern und Jugendlichen verteilen, Spannungen, etwa zwischen Kindern mit russischem und ukrainischem Hintergrund, werden Teil der Realität sein. Hierauf muss die Politik die Gesellschaft vorbereiten und von Anfang an ehrlich und transparent kommunizieren, welchen Beitrag wir alle werden leisten müssen. Es kann und darf nicht allein Aufgabe von Schule und Kita sein, derartige Zusammenhänge vermitteln und hierdurch entstehende Konflikte bewältigen zu müssen.

Regionale Unterschiedlichkeiten mitdenken

Die Voraussetzungen und Möglichkeiten sind in einzelnen Regionen, in städtischen und ländlich geprägten Gegenden, teilweise sehr unterschiedlich. Umso mehr gilt es, flexible und an den Gegebenheiten orientierte Angebote und Maßnahmen zu entwickeln und bereitzustellen. Die an den Kitas und Schulen vor Ort tätigen Kolleginnen und Kollegen können am besten beurteilen, welche Herausforderungen vor Ort bestehen und welche Angebote umgesetzt werden können. Ihre Expertise ist deshalb unbedingt in Gestaltungs- und Entscheidungsfindungsprozesse einzubeziehen.

Die Verantwortung der vor uns liegenden Mammutaufgabe, insbesondere der Integration von Kindern und Jugendlichen, kann nicht an Kitas und Schulen allein delegiert werden. Ob sie uns gelingt, hängt entscheidend davon ab, inwieweit die derzeit erlebte, bewundernswerte Hilfsbereitschaft in der breiten Bevölkerung nachhaltig bleibt, das heißt inwieweit sie sich in unserer aller Haltung zeigt, inwieweit wir etwa bereit sind, persönliche Veränderungen und wahrgenommene Einschränkungen in unserem persönlichen Lebensbereich anzunehmen.