Berlin, Bildungsfinanzierung Bildungsgerechtigkeit

„Die Zerschlagung des gordischen Knotens muss warten!“

Zu den gestern Abend veröffentlichten Eckpunkten für das Startchancen-Programm äußert sich der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, wie folgt: „Die Einigung war überfällig. Schon der Pisa-Schock zeigte eine hohe Ungleichheit und neuere Studien beweisen nach wie vor, dass Kinder aus ökonomisch schwächeren Haushalten nicht dieselben Bildungschancen haben, wie Kinder, die aus ökonomisch bessergestellten Haushalten kommen. Wir begrüßen daher den Schritt, das Startchancen-Programm als einen Baustein für mehr Bildungsgerechtigkeit umzusetzen.“

Schlicht nicht genug

In den Stadtstaaten leben besonders viele Kinder in ärmeren Haushalten. So erhalten fast 30 Prozent der Kinder in Bremen, ein Viertel der Kinder in Berlin und 20 Prozent der Kinder in Hamburg Sozialtransfers (Quelle: Bundesagentur für Arbeit). Mit Blick darauf, welche Summen notwendig wären, um eine flächendeckende Förderung und Eröffnung von Bildungschancen zu ermöglichen, stellt der VBE-Chef fest: „Die Zerschlagung des gordischen Knotens muss warten. Gerade die Stadtstaaten werden nicht ausreichend Gelder erhalten, um ihre teilweise enormen Schieflagen mit Kraft angehen zu können. Die hinter den Erwartungen zurückbleibende Summe bleibt die Achillesferse des Programms.“

Ein Ruck gegen den Sanierungsstau

Das Startchancen-Programm soll in drei Säulen Schulen fördern. Ein Großteil soll dafür genutzt werden, die Schulinfrastruktur zu modernisieren und Lernlandschaften umzusetzen, allerdings nicht für die Sanierung maroder Schulbauten eingesetzt werden. Die KfW bezifferte den Sanierungsstau 2022 mit 45,6 Milliarden Euro. Gerhard Brand dazu: „Es ist unbedingt einer Förderung wert, moderne Lernlandschaften zu gestalten. Und es ist richtig, dass die Gelder des Startchancen-Programms additiv verwendet werden sollen. Gleichzeitig muss endlich ein Ruck durch die Schullandschaft gehen. Es braucht ausreichend Investitionen in die notwendige Sanierung der Schulen. Wenn die Kinder sich den Toilettengang verkneifen oder Angst haben müssen, von losen Fenstern verletzt zu werden, bringt ihnen eine Couch auf dem Flur auch nicht viel.“  

Mehrarbeit könnte aus guter Idee Stopchancen-Programm machen

Der Bundesvorsitzende sieht noch einige offene Fragen, was den Umfang der Mehrarbeit für die Schulleitungen und Lehrkräfte an den Schulen betrifft. In der Vereinbarung heißt es unter anderem, dass die Schulen datengestützt arbeiten und „sich zu individueller Diagnostik, adaptiver Förderung und datengestützter Schul- und Unterrichtsentwicklung“ bekennen. Brand stellt fest: „Schulen, die vor solchen Problemlagen stehen, um mit Geld aus dem Startchancen-Programm gefördert zu werden, brauchen schnelle, schlanke und stabile Lösungen. Die Einführung datengestützter Prozesse kann aufwendig sein. Das darf nicht zu Mehrarbeit für die sowieso schon belasteten Kollegien führen. Ohne Entlastung von anderen Aufgaben und die Unterstützung durch zum Beispiel Verwaltungsfachkräfte besteht das Risiko, dass das Startchancen-Programm zu einem Stopchancen-Programm wird.“ Zudem hält er fest, dass es zwar richtig sei, Fortbildungen einzufordern, aber eben auch an der Schulrealität vorbeigeht: „Die Lehrkräfte würden sich freuen, Fortbildungen wahrnehmen zu können. Wenn aber das Kollegium so ausgedünnt ist, dass jeder Fortbildungstag die Schließung von Lerngruppen oder gar Schulen nach sich zieht, überlegt man es sich dreimal, ob das leist- und verantwortbar ist. Wenn nun Fortbildungen gefordert werden, zeigen die politischen Akteure nur, wie weit weg sie von der Schulrealität sind.“

Überambitioniertes Ziel

In dem Papier wurde zudem festgelegt, dass die relevante Evaluierungskennziffer ist, ob es gelingt, bis zum Ende der Programmlaufzeit die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, zu halbieren. Der Bundesvorsitzende des VBE ist zurückhaltend: „Zehn Jahre sind eine lange Zeit, in der es möglich ist, Programme zum Wirken zu bringen. Die Vorstellung einer Halbierung ist aber überambitioniert. Denn wir werden es in zehn Jahren mit einer weiter steigenden Heterogenität der Schülerschaft zu tun haben. Die voranschreitende Inklusion, die stetig steigende Anzahl von Kindern mit emotional-sozialem Förderbedarf und die zu erwartende anhaltende Integration von Geflüchteten werden hierzu beitragen. Außerdem stehen wir vor einem sich noch verschärfenden Lehrkräftemangel. Die Frage wird insbesondere sein, wie wir es schaffen, die Menschen, die den Quer- oder Seiteneinstieg wählen, so auszubilden und im Beruf zu halten, dass die Bildungsqualität gehalten werden kann.“

Fazit

Zuletzt bewertet Brand: „Das Startchancen-Programm ist angelegt als additiv wirkende Investition. Das wäre in einem ausfinanzierten Bildungssystem eine löbliche Initiative. Wir stehen jedoch vor immensen Herausforderungen, überhaupt den Sanierungsstau in den Griff und ausreichend Personal in die Schulen zu bekommen. Zieldimensionen zu definieren ist zwar richtig, sollte die Möglichkeiten des Geldeinsatzes vor Ort aber nicht zu sehr einschränken. Was wir brauchen, ist ein Raum für Innovation: Etwas ausprobieren, auch wenn es vielleicht nicht immer funktioniert. Denn besondere Herausforderungen brauchen besondere Lösungen!“